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Gedanken zur Jahreslosung 2021

Jesus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lukas 6,36)

Mit der Jahreslosung grüße ich Sie herzlich am Anfang des neuen Jahres 2021. Ein beschwerliches Jahr 2020 liegt hinter uns, wo wir in einer Situation waren, die unser Leben und unsere Freiheit durch ein gefährliches Virus bedroht hat. Weihnachten und den Altjahresabend konnten wir nicht feiern, wie uns das sonst lieb war. Zum Jahresanfang sind wir immer noch im Lockdown. Vorsicht ist im zwischenmenschlichen Umgang geboten. Persönliche Kontakte sind auf ein notwendiges Maß zu beschränken. Es gibt aber auch Hoffnung. Mit den beginnenden Impfungen erscheint ein Licht am Ende des Tunnels. Doch niemand weiß so genau, wie es wird. Mutationen des Virus aus England kommend machen Sorgen. Auch das Jahr 2021 wird lebensgefährlich bleiben, denn das Leben ist immer lebensgefährlich (nach Erich Kästner). Ich mag uns dazu einladen wollen, auch das neue Jahr unter Gottes Hand bergende Hand zu stellen. An das weihnachtliche Ereignis mag ich uns erinnern, wo der Mensch werdende Gott in diese Welt kam. Jesus wurde geboren als Mensch. Herangewachsen war er vorher neun Monate in der Gebärmutter einer Frau. Hier wurde ihm alles mitgegeben, was für sein späteres Leben notwendig ist. Später wird er dann ein Vertreter und ein Lehrer guten Lebens. Eines Lebens, das wir in Qualität führen können. Ein Leben, in dem wir einen Mehrwert bekommen, wenn wir seiner Lehre folgen. In diesem Zusammenhang steht auch unsere Jahreslosung; ein Wort aus der Bergpredigt Jesu, das der Evangelist Lukas in abgewandelter Form zitiert. (Lukas 6,36) Jesus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. In dieser Grundtugend der Barmherzigkeit steckt das Wort Herz. Herz bezeichnete im Altertum alle Gefühle, die ein Mensch hat. Uns wünsche ich ein weites Herz. Ein weites Herz, das den Mitmenschen in seinen jeweiligen Lebenshaltungen und Einstellungen annimmt und toleriert. Ein Herz, das dazu bereit ist, auf die Durchsetzung des eigenen Willens und des eigenen Vorteils zu verzichten. Ich denke, dass dies im Kern des Begriffes Barmherzigkeit gemeint ist. Oft erleben wir das aber anders, da gibt es ein Beharren auf eigenen Standpunkten. Da geht es dem Menschen um die Durchsetzung eigener Interessen, um die Durchsetzung des eigenen Kopfes. Vielleicht macht sich der Begriff der Barmherzigkeit in unserer Gesellschaft so rar, weil wir viel Unbarmherzigkeit erfahren. Und wenn wir zurückdenken an den eigenen Vater, die eigene Mutter, die eigene Kindheit und Jugend, dann ist es schön, wenn wir viel Barmherzigkeit erfahren haben, aber durchaus nicht immer selbstverständlich. Manchmal ist es gut, Erfahrungen aus der Kindheit aufzuarbeiten, um das eigene Herz zu weiten. Jesus setzt in unserem Wort aus dem Lukasevangelium einen anderen Akzent. Er spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. In seiner Definition der Barmherzigkeit geht es um die Gottesbeziehung; zunächst einmal um Gottes Beziehung zu uns.

Gott rechnet uns nicht alles zu. Und er verrechnet auch nicht. Er steht bedingungslos auf unserer Seite und nimmt sich unser an. Das bedeutet seine Menschwerdung. Er geht einem jeden Menschen nach. Er sucht das Verlorene und öffnet uns unsere Augen für unsere Mitmenschen. Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37) dreht Jesus die Frage: "Wer ist mein Nächster" um. Du kannst dem zum Nächsten werden, der deiner Hilfe bedarf. Gelebtes, praktisches Christentum kommt so in den Blick. Ein Glaube, der seinen Sitz im Leben, im mitmenschlichen Alltag hat. Dietrich Bonhoeffer formuliert das so: „Du selbst bist der Nächste. Geh hin und sei Gehorsam in der Tat der Liebe. Nächster zu sein ist nicht Qualifikation des Anderen, sondern ein Anspruch an mich. In jedem Augenblick bin ich der zum Handeln Geforderte."

Vor vielen Jahren, da war ich Pfarrer einer Landgemeinde. Die Kirche war im Dorf. Und auf den Dörfern fand Gottesdienst an unterschiedlichen Orten statt. Mutters gute Stube, aber auch das Schützenhaus waren solche gottesdienstlichen Orte. Ein neuer katholischer Kollege bot mir spontan Gastrecht in der Kapelle seiner Gemeinde an. Evangelischen Gottesdienst feierten wir künftig in der katholischen Kapelle St. Anna, manchmal auch zusammen mit den katholischen Geschwistern in ökumenischer Verbundenheit. Ich erinnere mich gern daran. Und ich sehe in dieser Geschichte ein Stück weit gelebte Barmherzigkeit. Der Kollege gab gerne und ohne Not etwas ab. Er hatte davon keinerlei Vorteile. Und wir fanden Heimat in einem Gotteshaus. Anna, der Mutter der Maria, der Großmutter Jesu hätte das gefallen. Barmherzigkeit fiel hier nicht schwer. Und das Gemeinschaftsgefühl der Christen auf dem Dorf wurde bestärkt.

Wo aber sind die Grenzen der Barmherzigkeit? In den Zeiten der Pandemie fällt es mir schon schwer, Verständnis zu haben für sogenannte Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Aluhüte und sonstige Querulanten. Wenn ich aber meine Gedanken konsequent zu Ende denke, dann sind auch sie Gottes geliebte Geschöpfe. An die Grenzen der Toleranz gerate ich aber, wenn jemand das Leben anderer Menschen gefährdet. Und dann muss ich auch einschreiten, um das Leben meiner Mitmenschen zu schützen.

Immer wieder wurde ich in den vergangenen Jahren mit kontroversen Meinungen zur Finanzierung von Rettungsboten durch die Kirchen auf dem Mittelmeer konfrontiert. Sicherlich kann es nicht gut sein, wenn die Machenschaften von Schleuserbanden gefördert werden. Aber auch hier gilt eine Güterabwägung: Als Christ muss ich für das Leben von Menschen eintreten. Und ich darf es nicht mitverantworten wollen, dass Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken. Außerdem ist die Mitfinanzierung von Rettungsboten nur ein kleiner Teil der sozial-diakonischen Initiativen unserer Kirchen. Denke ich an dieTafeln vor Ort, wo Kirchen oftmals initiierend beteiligt sind, dann wird auch Menschen geholfen, die bei uns in Not sind. Ein Werk der Barmherzigkeit in unserer Zeit, wo nicht alles im Rahmen der Sozialstaatlichkeit abgedeckt werden kann. Und unsere im evangelischen Raum beheimatete christliche Soziallehre setzt gerade auf Eigeninitiative von Christen. In der Sozialen Marktwirtschaft findet sie eine Form, wo Stärkere den Schwächeren helfen können, wo alle Hilfe letztlich Hilfe zur Selbsthilfe wird. Im vergangenen Jahr sagte mir ein Mann, dessen Eltern Anfang der 90ziger Jahre als Deutsche aus Russland kamen: „Ich bin dankbar dafür, dass uns damals geholfen wurde. Heute kann ich selber helfen. Gerne mag ich dieser Gesellschaft etwas zurückgeben". Flüchtlinge, die wir heute aufnehmen, werden uns das in absehbarer Zeit auch sagen.

Barmherzigkeit: Für uns als Christen fängt diese damit an, dass wir uns an der Barmherzigkeit Gottes orientieren. Barmherzigkeit heißt, dass wir ohne Not etwas von dem abgeben können, was wir haben. Barmherzigkeit heißt, dass wir nicht auf die Erhaltung eigener Besitzstände schielen müssen. Das stellt uns hinein in die Freiheit eines Christenmenschen, um in Luthers Sprache zu sprechen. Barmherzigkeit kann so frei und glücklich machen, uns und andere Menschen.

Alle Religionen kennen Barmherzigkeit. Sie ist somit ein Merkmal des religiösen Menschen, aber durchaus kein Alleinstellungsmerkmal. Jeder Mensch kann auf seine Weise erfahren, das Geben seliger als Nehmen ist. Psychologen sagen uns, dass wir glücklicher werden, wenn wir etwas abgeben. Besonders gilt dies, wenn wir es uneigennützig tun.

Barmherzigkeit fängt auch bei uns selbst an, wenn wir uns selbst gegenüber barmherzig sind. Wir müssen nicht immer den hohen Bildern entsprechen, die andere oder wir uns selbst vor Augen halten. Da kann dann auch einmal der Satz hilfreich sein: Ich bin damit zufrieden, so wie ich bin. Oder: Für mich genügt das so. Barmherzigkeit schärft so unseren Blick auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen.

Bei der Beschäftigung mit dem Thema Barmherzigkeit kamen mir die Brüder Brunner und Brunner in den Sinn. Sie vertraten Deutschland beim European Song Contest im Jahre 1983 mit der Schlagerballade „Rücksicht". Das Scheitern und das Gelingen zwischenmenschlicher Beziehungen bringen sie in dem Fünfklang aus Rücksicht, Nachsicht, Vorsicht, Einsicht und Weitsicht unter. „Vorsicht, dass man den anderen nicht zerbricht." In diesem Sinne wünsche ich uns ein gutes neues Jahr, das bei allen Herausforderungen ein Jahr der Barmherzigkeit werden möge.

Euer/Ihr Pfarrer Dirk Gogarn

 

Guter Gott,

dass du barmherzig zu uns bist, dafür sei dir Dank.

Mensch geworden bist du, weil du dich unser in unserer Menschlichkeit annimmst. In Jesus lehrst du uns Barmherzigkeit. Abgeben und teilen können wir, obwohl wir dies eigentlich nicht müssten. Für uns und unsere Mitmenschen kommt aber so mehr Sinn und Qualität ins Leben hinein. Stärke unsere Rücksicht auf unsere Mitmenschen. Fördere du die Rücksicht der Menschen untereinander. Schenke Vorsicht, dass nichts zerbricht. Gehe du mit uns bewahrend und behütend in das neue Jahr mit all seinen Wägbarkeiten und Unwägbarkeiten.

Amen