voriger Artikelalle Neuigkeitennächster Artikel

Jubilate!

Liebe Gemeinde!

Jubilate – übersetzt „Jauchzt!“ So heißt dieser Sonntag. Jauchzt! Das ist ein Auftrag, ein Auftrag an uns. Jauchzt! Jubelt! Singt! Ein bisschen merkwürdig ist diese Ansage ja schon: „Jauchzen“ - Kann man das überhaupt auf Befehl? Lässt sich Begeisterung verordnen?

Jubilate! Dieser Aufruf stammt aus Psalm 66,1, in dem es etwas später heißt: Kommt her und sehet an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern (Psalm 66,5). Gottes wunderbares Tun an uns! Wenn das kein Grund zum Frohsein ist! Unser Jauchzen soll und muss sich also nicht aus unserer aktuellen Fun- und Freude-Bilanz und unser Jubel nicht aus dem Trubel der letzten Zeit speisen (das könnte sich wohl gerade im Moment etwas spärlich ausnehmen): Grund zum Jauchzen haben wir unserem wunderbaren Schöpfer sei Dank! Und überdies: wir befinden uns mitten in der österlichen Freudenzeit. D. h. die Freude über Jesu Auferstehung, die Freude über den Sieg des Lebens über den Tod soll drei Wochen nach Ostern nicht nur noch ein bisschen nach- oder gar allmählich verhallen, sondern lebendigen Ausdruck finden. Jubelt!

Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist eine ganz bekannte Stelle aus dem Johannesevangelium. Es ist eines von den sieben „Ich-bin“-Worten, die in bildhafter Sprache echte Kernaussagen über Jesus und unsere Beziehung zu ihm formulieren: Ich bin das Brot des Lebens (Joh 6,35). Ich bin das Licht der Welt (Joh 8,12). Ich bin die Tür (Joh 10,9). Ich bin der gute Hirte (Joh 10,11). Ich bin die Auferstehung und das Leben ( Joh 11,25). Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6), und – hier beginnt unser Predigttext - Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner (Joh 15,1). In Vers 5 entfaltet Jesus dieses Bild mit den noch bekannteren Worten: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

Wunderschön! Ein wirklich starkes Gemälde: Jesus als Weinstock, Gott als Winzer, wir die Trauben. Das geht runter wie eine gute Beerenauslese. Das schmeckt mir; denn ich kann viel damit anfangen. Jesus ist uns nicht nur zugewandt; nein, wir sind in engem Kontakt, ja, innigster Gemeinschaft. Und das Frucht-Bringen ist nicht Bedingung dafür, sondern Folge davon. Wir müssen nicht erst einen Strauß an Begabungen, Fähigkeiten und Erfolgen präsentieren; die Verbindung zu Jesus reicht. Das schwingt auch in den nachfolgenden Worten mit. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“. Damit will Jesus ja nicht unsere Handlungsmöglichkeiten in Frage stellen, sondern er garantiert sie. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ bedeutet im Umkehrschluss nämlich auch: Mit mir könnt ihr nicht nichts vollbringen. Mit mir, in mir, an mir bringt ihr auf jeden Fall Frucht.

Da muss uns auch der nächste Vers nicht irritieren: Der malt aus, was passiert, wenn wir nicht bleiben: Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen (Joh 15,6). Klingt hart, und tatsächlich: im Mittelalter diente diese Stelle mitunter zum Entwurf schauriger Höllenbilder; die Kirche maßte sich eine Deutungshoheit über Gottes Gnadenhandeln an, und das führte zu Machtmissbrauch auf der einen Seite und Unfreiheit und Angst auf der anderen. Und was bewirkt Angst? Menschen bleiben fruchtlos, wenn sie nicht furchtlos sein können. Ein Widerspruch zu dem, was Jesus will! Daher kann es hier nicht darum gehen, zu entschlüsseln, wie Gott unser Tun und Lassen beurteilt. Das können wir doch gar nicht und sollten das deshalb auch nicht. Eigentlich beantwortet das, was da beschrieben wird, einfach nur die Frage: Bleiben - warum überhaupt? Dieses düstere Gegenbild vom „Verbrannt-Werden“ illustriert, wie wichtig es ist dranzubleiben – an Jesus. Eigentlich heißt das: Wenn wir nicht bleiben, wenn unser Leben keinen Halt hat, können wir nur schwerlich Frucht bringen. Wenn der Durst nach wahrem Leben uns in die falsche Richtung führt, tut das höllisch weh; wir verlieren uns, sind ausgebrannt, dann ist einfach alles Asche. Und deshalb sagt Jesus: Bleibt in mir. Hängt euch nicht an Sachen, die Ihr nicht braucht, Beziehungen, die euch nicht guttun, Überzeugungen, die nicht tragfähig sind. Lebenskraft bekommt ihr von mir. Aus meiner Fülle heraus könnt ihr leben. Kraft geben schließt Kritik und Korrekturen nicht aus, aber immer gilt: wir sind nicht die Summe unsrer Erfolge. Gedeihlich leben, Frucht bringen – das gelingt uns immer, wenn wir bei Jesus bleiben.

Das ist schön und entlastend und gleichzeitig so ermutigend – gerade im Moment, da so viele den Eindruck haben, dass sie viel weniger Möglichkeiten als sonst haben, etwas zu vollbringen, etwas zu schaffen, zu erwirtschaften, zu präsentieren – kurz: die Möglichkeit selbstwirksam zu sein. Statt gestalten, aushalten. Auch das kann Kräfte zehrend sein: das Alleinsein aushalten, die Unsicherheit aushalten, die ungewohnte Ruhe aushalten, Kindergeschrei aushalten, die Jobsorgen aushalten, das Weniger an freien Entscheidungen aushalten, die ständig drohende Vermischung von Arbeitszeit und Freizeit beim Homeoffice aushalten, die vielen Striche durch unsere Rechnungen aushalten. Man ist geschafft, weil man so wenig schafft, schaffen kann. Man fühlt sich unproduktiv.

Du bringst viel Frucht – hören wir da.

Bleib einfach bei mir, dann bringst du viel Frucht. Und das ist nicht eine betuliche Phrase. Das ist eine Zusage. Das ist eine Verheißung. Balsam für unsere Seelen.

Und doch halte ich inne; denn wenn ich mir nur meine Lieblingsverse anschaue, dann mogele ich ein bisschen. Warum? Zwischen den süffigen Symbolen von Frucht und festem Halt findet sich ein Vers, der eine störende Schärfe entfaltet:

Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe (Joh 15, 2).

Gott, der Winzer, scheint radikal durchzugreifen, um Saft und Kraft den vollen Reben zu überlassen. Das Wegnehmen wird auch gern mit „Abschneiden“ übersetzt. Und ja, im Weinbau gehört der Rebschnitt zu den üblichen Arbeiten. Aber was trägt dieses Bild für die Gedankenführung hin zu der großartigen Liebeserklärung „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch“ (Joh 15,9), wenige Verse später aus? Wo sind da Liebe, Güte und Barmherzigkeit? Soll das Jesus gesagt haben, „der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle“ (1 Tim 2,6)? Wie lassen sich solche Worte überhaupt für einen Sonntag Jubilate fruchtbar machen?

Was die allermeisten Übersetzungen nahelegen und aufs erste Lesen auch nicht unrichtig erscheint, entspricht nicht unbedingt der ursprünglichen Sprechabsicht. „Wegnehmen“ ist die Übersetzung des griechischen Wortes αιρω (airo). Nein, es ist eigentlich nicht die Übersetzung, sondern nur eine. Das Verb airo hat noch eine andere Bedeutung; airo heißt auch: aufheben und hochheben. Und dann ergibt der Vers einen völlig neuen Sinn:

Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, hebt er hoch; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe.

Gott hebt hoch. Ist das nicht grandios? Die zu Boden gehen oder am Boden liegen, hebt er auf. Sie müssen nicht fürchten, dass nachgetreten wird, dass sie selektiert und seziert werden.

Das ist jetzt keine künstlich glatt geschmirgelte Lesart. Sie passt exakt in das Bild vom Weinbau; denn auch das Hochheben und Binden der Reben, die zum Boden hin wachsen, ist eine typische Arbeit des Winzers. Wenn Reben sich nach unten neigen, dann drohen ihnen Dreck, Nässe und letztendlich Schimmelgefahr. Frucht zu bringen, würde unmöglich. Das muss der Weingärtner verhindern, also hebt er die wegknickenden Reben an und die verschmutzten reinigt er, tut also genau das, was unser Vers auf der Bildebene beschreibt. Mit Paul Gerhardts Worten gesprochen: Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herze regt, das ohn Ende hebt und trägt (EG 325,1).

„Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, hebt er hoch.“ Das ist ein Wort für alle Fragenden, Suchenden und Zweifelnden, für alle Enttäuschten und Ausgelaugten. Für alle, die nicht von den Sonnenseiten des Lebens verwöhnt, vor aller Augen üppig gedeihen. Ein Wort für die Geknickten, für die sich Abwendenden, für die, die die Direktverbindung zum Glück verpasst haben und stattdessen auf Umwege, Nebenstrecken und Abstellgleise geraten sind. Für alle, die die Osterbotschaft vielleicht noch im Ohr, aber nicht im Herzen haben, weil sie sie einfach nicht glauben können. Für alle eben, denen der Mut, die Kraft oder das Vertrauen fehlen, dranzubleiben an Jesus.

Gott wird uns nicht als Buchhalter vorgestellt, der Zwischenbilanzen unserer Glaubens- oder Lebensleistungen zieht und schließlich die große Endabrechnung aufmacht. Jesus vergleicht Gott mit einem fürsorglichen Weingärtner, der hingeht, nachschaut, hebt, stabilisiert und alles tut, damit wir wieder Halt finden. Wir sind nicht fertig, wir sind nicht perfekt. Wir sind im Wachsen, und das darf sein.

Jesus will, dass wir bleiben. Das ist es, worum es in dem ganzen Abschnitt (Joh 15,1-8) immer und immer wieder geht. Bleibt! Das ist der Schlüssel. „Bleibt“ meint nicht: Macht nichts mehr! Lasst alles, wie es ist! Bleiben ist dynamisch, „Bleiben“ meint nicht „Abhängen“, sondern: in guter, Frucht bringender Abhängigkeit zu Gott wahres Leben ermöglichen, Sinn finden und wirklich Mensch werden zu können.

Und darin – so heißt es im letzten Vers (V.8) – wird Gott verherrlicht, dass wir viel Frucht bringen und Jesu Jünger werden. Man könnte auch sagen: dass wir im Einklang mit Gott, unseren Mitmenschen und uns selbst leben; dass wir danken, weil wir wissen, wem wir uns verdanken. Weil und wenn wir in und an Jesus hängen, werden wir Expertinnen und Experten für gute Lebensmöglichkeiten. Und als solche können wir anderen die Fülle des Lebens nahebringen und so leben, dass sie in Freiheit dabei sein, nachfolgen wollen.

„Bleiben“ bedeutet: Gesegnet sein und zum Segen werden. Wenn das kein Grund zum Frohsein ist. Jubilate!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Ihre Pfarrerin Martina Kämper