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Gedanken zum Sonntag 'Okuli', 7. März 2021

von Pfarrer Klaus Kemper-Kohlhase:

Er war einer meiner Klassenkameraden. Ich nenne ihn hier „Thomas“, obwohl er anders hieß. Er hat sich das Leben genommen. Das sind nun schon über 50 Jahre her. Er hatte einen Abschiedsbrief geschrieben, in dem zu lesen war: „Ohne Liebe kann ich nicht leben.“

Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade von meinem Vater zurückgekommen bin. Ich habe ihn besucht, „zuhause“ in Brochterbeck. Vielleicht liegt es daran, dass ich beim Lesen einiger der für diesen Sonntag von der Kirche vorgesehenen Verse aus dem fünften Kapitel des Epheserbriefes wieder an Thomas denken muss.

„Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat.“ So steht’s im Epheserbrief.

Das liest sich so leicht. Das klingt wie ein schöner Spruch aus dem Poesiealbum. Und doch so unendlich schwer, wie Thomas mir gezeigt hat.

Wie macht man das, „in der Liebe leben“? Gibt es dafür eine Gebrauchsanweisung?

Einen Plan für gelingendes Leben? Einen, der vor einem Scheitern bewahrt?

Nein. Auch als Gottes geliebte Kinder können wir scheitern.

 

In Ephesus hat man Erfahrungen mit dem Scheitern gemacht:

Der Schwung der ersten Jahre der Christenheit ist dahin.

Der Traum, jedes Jahr weiter zu wachsen, ist für die junge Kirche ausgeträumt.

Die junge Kirche ist älter geworden.

Man tritt auf der Stelle.

Es scheint keine Visionen mehr zu geben.

Die Jüngeren wenden sich ab, hin zu anderen, scheinbar attraktiveren Religionen.

 

„Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat.“

Man mag im Leben manches aushalten:

  • dass sie Kirche kleiner wird,

  • dass so mancher Traum platzt.

    Nur eins geht nicht, ist nicht auszuhalten, ist unerträglich: Ein Leben ohne Liebe.

    Ohne Liebe können wir nicht leben. Ich meine

    - die Liebe, die auch noch in Momenten ganz großer Verlassenheit da ist.

    - die Liebe, die dich noch trägt, auch wenn dir der Boden unter den Füßen weggerissen wird.

    - die Liebe, die bleibt, selbst, wenn der Job weg ist, die Ehe unerträglich geworden oder

    wenn das Alter den Körper fest im Griff hat.

    Ohne das Wissen, unbedingt geliebt zu sein, kann ich nicht leben. Danach sehnen wir Menschen uns, nach einer Liebe, die uns trägt. Ohne Liebe sind wir nur ein dunkler Schatten, sind wir Finsternis, keine Menschen mehr.

    Was aber tun, wenn die Finsternis übermächtig wird im Leben?

    Alle 45 Minuten geschieht in Deutschland ein Selbstmord. Etwa 10.000 Menschen nehmen sich pro Jahr in Deutschland das Leben. Jeder vierte davon ist unter 30 Jahre - wie Thomas.

    10.000 Menschen, denen etwas Elementares im Leben gefehlt hat. Und auf jeden erfolgten Suizid kommen etwa fünfzehn Versuche.

    Wer macht so etwas? Es sind Menschen, denen für einen Augenblick der Grund des Lebens abhanden gekommen ist.

    Ich habe den Eindruck, dass eines unserer großen Probleme ist, nicht mehr zuhören zu können. Wir sind nicht mehr in der Lage, einem anderen zuzuhören, und zu spüren, wie es ihm wirklich geht. Das macht ganz wesentlich Liebe aus, einem anderen ganz zugewandt zu sein. Vielleicht ist es auch das, was viele Menschen heute an der Kirche stört. Dass es auch dort nur noch wenige Menschen gibt, die zuhören können, die vielmehr schon immer zu wissen meinen, was für den anderen gut ist.

    Es gibt auch Gegenbeispiele. Gott sei Dank! Ich denke da zum Beispiel an die Telefon-Seelsorge. Da haben Ehrenamtliche Tag für Tag mit Menschen wie Thomas zu tun. Sie müssen mit offenen Ohren und viel Fingerspitzengefühl auf Sätze reagieren wie „Ich will nicht mehr, ich mach jetzt Schluss“ oder Leuten etwas antworten, die mit festem Ton sagen „Mir wird alles zu viel!“.

    Was sagt man dann? Welches Wort ist da das richtige? Welche Reaktion angemessen?

    Was hilft aus der Sackgasse heraus?

    Für Paulus, der als Verfasser des Epheserbriefes genannt wird, gibt es nur einen Weg aus einer solchen Sackgasse: Die Liebe. Die Liebe, die Jesus Christus gelebt hat. Eine Liebe, die mit Hingabe und mit Opfer zu tun hat.

    Eine Liebe, die nicht festhalten oder besitzen will. Nicht einmal den, der einen Selbstmord verüben will. Es gibt Theologen, die wagen in der Seelsorge mit Suizidkandidaten den Satz „Wenn Sie jetzt Tabletten nehmen wollen, kann ich Sie nicht daran hindern“. Ich finde das sehr mutig und stark. So ein Satz macht deutlich: Liebe lässt Freiraum, den eigenen Weg zu gehen. Liebe engt nicht ein. Liebe eröffnet - positiv - neue Handlungsmöglichkeiten.

    „Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat.“ Das heißt: Ihr seid Gottes geliebte Kinder! Ihr steht in seinem Licht! Auch wenn ihr manchmal blind seid für dieses Licht. Auch wenn ihr Gott nicht spürt in eurem Leben. Die Liebe kann dir gar nicht verloren gehen. Du lebst in ihr. Du bist von ihr umgeben. Sie ist unabhängig von dir, von deinen Gefühlen, deinen Empfindungen, deinen Gedanken. Sie ist da in Jesus Christus, dem Auferstandenen - und deshalb Gegenwärtigen. Öffnen wir uns dieser Liebe - die uns zur Liebe bewegt.

    Auch sein Leben war - wie das von Thomas - früh, viel zu früh zu Ende. Aber es hat zu einem Ziel geführt: Zu einer Hingabe, zu einer Liebe, die die ganze Welt umspannt.

    Das Kreuz umfasst alle Menschen, auch noch den Selbstmörder, der sich selbst auslöschen will. Es umfasst die Depressiven, die nicht leben und nicht sterben können. Es umfasst die Kranken auf dem Weg in den OP.

    Jesus am Kreuz umfasst mit seinen ausgebreiteten Armen jede nur erdenkliche Dunkelheit, in die wir geworfen werden können. Mir hat mal jemand gesagt, dass das Kreuz hinter dem Altar in der Jesus-Christus-Kirche genau das zum Ausdruck bringen will mit dem unproportional langen Querbalken.

    Das will auch der Epheserbrief sagen, wenn er von der Liebe Christi spricht.

    Ja, es gibt sie:

    Lieblosigkeiten, Ängste und Selbstzweifel - jede Menge.

    Aber das Geheimnis des Lebens, die Liebe, Christus selbst, lässt dich immer wieder aufrecht gehen.

    Auch wenn du keine Liebe spürst, die Liebe hat dich.

    Nenne sie „Gott“, nenne sie „Christus“, oder behalte den Namen, den sie für dich hat, für dich.

    Lass dir das heute sagen: Du bist ein Teil dieser Liebe im Meer der Liebe Gottes.

    Klaus Kemper-Kohlhase, Pfr.

     

(Ich bin zu erreichen unter der Telefonnummer 02354-2196. Sollte ich nicht zuhause sein, sprechen Sie mir einfach auf meinen Anrufbeantworter. Nennen Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer, dann rufe ich Sie gerne zurück).

 

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